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»Wir müssen die Rachsucht begraben«

aus DER SPIEGEL 38/1991

Karmal, 62, mit der sowjetischen Militärinvasion im Dezember 1979 als Afghanistans Revolutionsherrscher eingesetzt und 1986 von Nadschibullah abgelöst, kehrte unlängst aus Moskau nach Kabul zurück.

SPIEGEL: Nach Ihrer Absetzung haben Sie vier Jahre lang in der Sowjetunion gelebt - freiwillig?

KARMAL: Es war nicht meine freie Entscheidung. Ich war wohl der Sündenbock für den geschichtlich nicht wiedergutzumachenden Fehler der sowjetischen Invasion.

SPIEGEL: Aber Sie waren es doch, der mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen an die Macht gelangte. Wer ist denn nun für die Leiden des afghanischen Volkes verantwortlich?

KARMAL: Der Krieg in Afghanistan begann nicht erst mit dem sowjetischen Einmarsch, der angeblich zum Schutz der südlichen Grenze der UdSSR unternommen wurde. Er begann bereits mit dem Staatsstreich des Prinzen Mohammed Daud gegen König Sahir Schah im Jahre 1973. Und der Konflikt verschärfte sich nach dem April 1978 mit dem Militäraufstand im Namen des Sozialismus und der Diktatur des Proletariats, die mit stalinistischen Methoden durchgesetzt werden sollte. Schon meine unmittelbaren Amtsvorgänger haben die UdSSR mehr als 14mal zum Eingreifen aufgefordert.

SPIEGEL: Warum haben Sie nicht abgedankt, als das Fiasko Ihrer Politik für alle sichtbar wurde?

KARMAL: Ich war immer ein entschiedener Gegner der sowjetischen Truppenpräsenz. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit bestand ich darauf, daß die Truppen so schnell wie möglich das Land verlassen sollten. Aber auch nachdem ich zurückgetreten war, blieben die Sowjets noch drei Jahre.

SPIEGEL: Hatten Sie Angst um Ihr Leben?

KARMAL: Für einen afghanischen Patrioten ist es normal, für das Vaterland zu sterben. Trotzdem habe ich meine Ablehnung der sowjetischen Politik immer wieder bekundet.

SPIEGEL: Was hat Sie jetzt zur Rückkehr aus Moskau bewogen? Wollen Sie wieder eine politische Funktion in Afghanistan übernehmen?

KARMAL: Ich will dafür kämpfen, daß Frieden und Sicherheit in Afghanistan wiederhergestellt werden. Ich werde mich für die territoriale Integrität des Landes, für die Rechte der Stämme, die Werte der Demokratie und Menschenrechte einsetzen. Persönlich habe ich keine Ambitionen.

SPIEGEL: Wie echt ist denn diese Wandlung des Babrak Karmal - früher waren Sie doch ein Anhänger des marxistischen Internationalismus?

KARMAL: Trotz ihres totalitären Regimes und der stalinistischen Methoden hat die Sowjetunion - gestützt auf die Breschnew-Doktrin - viele fortschrittliche und patriotische Kräfte auf der Welt beeinflußt. Man darf nicht vergessen, daß die Völker der Sowjetunion die antikolonialen Befreiungsbewegungen immer unterstützt haben. Das war die Basis für die Freundschaft mit Afghanistan. Hinzu kam, daß die westlichen Länder, insbesondere die Supermacht USA, kein großes Interesse an unserem Land hatten. Auch dadurch wurde die außenpolitische Balance Afghanistans gestört.

Im übrigen: Unsere Partei war niemals eine marxistische Partei. Wir sind Nationaldemokraten und haben dem Islam Respekt gezollt.

SPIEGEL: Wenn es keine unüberbrückbaren weltanschaulichen Differenzen mit der Opposition mehr gibt, die noch immer gegen Ihren Nachfolger Nadschibullah kämpft, geht es dann nur noch um die Macht?

KARMAL: Hauptgrund der Differenzen ist die provokative Einmischung des Auslandes. Solange diese Einmischung anhält, wird auch der Krieg weitergehen. Kein afghanischer Politiker kann sich von den Ereignissen der Vergangenheit freisprechen. Um den Frieden zu gewinnen, müssen wir uns auf die islamischen Traditionen zur Konflikt-Schlichtung besinnen und die Bewertung der Vergangenheit dem Urteil künftiger Generationen überlassen.

SPIEGEL: Könnte Ex-König Sahir Schah den Frieden bringen?

KARMAL: Während des letzten Jahrzehnts seiner Herrschaft hatte ich gute Kontakte zu ihm. Ich war damals acht Jahre Parlamentsabgeordneter. Trotz der Fehler seiner Anhänger hat Afghanistan unter dem König eine neutrale Außenpolitik betrieben, und es gab wirtschaftlichen Aufschwung.

Sahir Schah könnte heute einen wichtigen Beitrag zum Frieden leisten. Das gilt auch für andere verantwortliche liberale Persönlichkeiten, die noch im Exil leben. Sie sollten zurückkehren. Die Zeit ist mehr als reif, um Rachsucht, Machthunger und kleinkarierte Auseinandersetzungen zu begraben. Die liberalen und demokratischen Kräfte müssen sich zusammentun und das Land befrieden.

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