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Politik

Ein Zwischenruf mit Spätfolgen

Die Aufarbeitung pädophiler Tendenzen bei den Grünen schien abgeschlossen. Doch eine neue Untersuchung bringt Renate Künast in Bedrängnis

Der Absatz, der Renate Künast noch gefährlich werden könnte, kommt erst auf Seite 74. Davor stehen die Ungeheuerlichkeiten, mit denen der Bericht der „Kommission zur Aufarbeitung der Haltung des Landesverbandes Berlin von Bündnis90/Die Grünen zu Pädophilie und sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ in dieser Woche Schlagzeilen machte.

Vor allem in den 80er-Jahren hatten Päderasten ganze Arbeitsgemeinschaften der Öko-Partei gekapert und von dort aus versucht, ihre Forderungen nach Straffreiheit für Sex mit Kindern politisch durchzusetzen. Besonders schlimm trieben es die Pädophilen im alternativen Vorzeigebezirk Kreuzberg. Dort hielt sich bis zur Verhaftung eines grünen Parteimitglieds zu Beginn der 90er-Jahre eine Anlaufstelle für pädosexuelle Täter. „Das Wegschauen sehen wir als institutionelles Versagen“, bat die Grüne Landesvorsitzende Bettina Jarasch jetzt, mehr als 20 Jahre danach, um Entschuldigung. Die Partei sei „blind vor den Opfern sexuellen Missbrauchs“ gewesen.

Doch damit ist das Kapitel noch nicht abgeschlossen. Denn in dem Konvolut finden sich nicht nur Hinweise auf grüne Täter. Der Bericht gewährt auch Einblick in eine verquere Gedankenwelt, die vor allem in den 80er-Jahren nicht nur bei radikalen Minderheiten, sondern bis in den Mainstream der grünen Partei reichte. Sex mit Kindern galt im grünen Ideenkosmos lange als akzeptabel, solange er „einvernehmlich und gewaltfrei“ vollzogen würde.

So jedenfalls klingt ein Protokoll aus einer Sitzung des Berliner Abgeordnetenhauses im Jahr 1986. In diesem Landesparlament war Renate Künast Abgeordnete. Sie stieg später zur Fraktionsvorsitzenden auf, sogar zur Bundesministerin und Bürgermeisterkandidatin. Am 29.Mai 1986 war das noch Zukunftsmusik, Künast aber schon grüne Wortführerin – bekannt für ihre schnoddrigen Zwischenrufe. Während eine grüne Abgeordnete über häusliche Gewalt spricht, stellt ein CDU-Abgeordneter die Zwischenfrage, wie die Rednerin zu einem Beschluss der Grünen in Nordrhein-Westfalen stehe, die Strafandrohung wegen sexuellen Handlungen an Kindern solle aufgehoben werden. Doch statt der Rednerin ruft, laut Protokoll, Renate Künast dazwischen: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist!“ Klingt das nicht, als wäre Sex mit Kindern ohne Gewalt okay?

Ein Missverständnis, meint Künast. In der Debatte sei es gar nicht um Sex, sondern um Gewalt an Kindern gegangen. Sie habe nur darauf hinweisen wollen, dass der CDU-Vorwurf ins Leere ging. Allerdings sieht sie den damaligen Diskurs heute kritisch – und ihre Rolle dabei: „Wir haben damals rechtsphilosophisch die Abschaffung des Strafrechts diskutiert. Zu spät haben wir ein Gefühl dafür entwickelt, dass es absolut schützenswerte Personen gibt, für die diese Debatte unmöglich ist.“ Tatsächlich passte die Forderung einer extrem weitgehenden Strafrechtsliberalisierung gut zur Kampagne der Pädophilen, Sex mit Kindern zu legalisieren. „Ich habe nie dafür gestimmt, sogenannte einvernehmliche Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen zu legalisieren“, betont Künast.

Auf ihre Rolle im grünen Milieu blickt sie dennoch zerknirscht zurück: „Ich werfe mir heute vor, nicht zu den Kreuzberger Frauen gehört zu haben, die sehr aktiv für das Ende dieser Debatte kämpften. Aber ich war auch nicht auf der Gegenseite. Den ,Falkensteiner Keller‘ in Kreuzberg kannte ich nicht.“ In diesem als Jugendeinrichtung getarnten Missbrauchsraum hatten zwei grüne pädophile Parteimitglieder sich an Heranwachsenden und Kindern über Jahre vergangen.

Stephan Klecha, Sozialwissenschaftler und ehemaliger Mitarbeiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, sieht Künasts Rolle ebenfalls kritisch. Zusammen mit dem Politikwissenschaftler Franz Walter erforschte er über ein Jahr lang im Auftrag des grünen Parteivorstands pädophile Tendenzen in der Gründungsphase der Ökopartei.

„Frau Künast deutete mit ihrem Zwischenruf an, welche Gesamtakzeptanz das Thema Mitte der 80er-Jahre bei der grünen Partei hatte. Die Position, einvernehmliche sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern für möglich zu halten, genoss eben lange Zeit eine gewisse Billigung“, meint Klecha. Erstaunlich sei vor allem der Zeitpunkt von Künasts Bemerkung im Parlament. Denn im Mai 1986, so ergaben Klechas Recherchen, hätte es bei den Grünen für einvernehmliche sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern „wohl nirgends mehr Aussichten auf Mehrheiten“ gegeben. Auch der Landesverband in Nordrhein-Westfalen hatte nach einem katastrophalen Landtagswahlergebnis wieder Abstand von den Kindersex-Forderungen genommen. Die eigentlichen Protagonisten der Debatte, weiß Klecha, „wurden zu diesem Zeitpunkt auch schon zögerlich aus der Partei hinausgedrängt“.

Bettina Jarasch, heute Berliner Landesvorsitzende, hält den Zwischenruf für geradezu typisch für den damaligen grünen Diskurs, in dem sich Täter verstanden fühlten: „Renate Künast hat offensichtlich, wie nahezu die gesamte grüne Partei, damals die fatale Unterscheidung von einvernehmlicher Sexualität mit Kindern und Sexualität, bei der Gewalt eine Rolle spielt, gemacht. Diese Unterscheidung wirkte wie eine Beruhigungspille und hinderte uns daran, unsere Positionen zu hinterfragen.“

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