WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Politik
  3. Ausland
  4. EU-Gipfel: Merkel sichert Deutschland zusätzliche Milliarde – alle Details

Ausland Gipfel in Brüssel

Merkel sichert Deutschland zusätzliche Milliarde – Die Details der EU-Einigung

EU-Länder einigen sich auf Milliardenhilfspaket

Nach über 90 Stunden haben die 27 Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Gipfel eine Einigung über die Corona-Hilfen erzielt. Es soll auch einen Kompromiss geben, dass nur noch die Staaten Gelder bekommen, die sich an rechtsstaatliche Prinzipien halten.

Quelle: WELT/ Eybe Ahlers

Autoplay
Nach einem Verhandlungsmarathon haben sich die EU-Staats- und Regierungschefs auf ein Rekordpaket verständigt. Mehrere Punkte könnten als historisch gelten, einer kontroversen Frage weichen die Verhandler um Angela Merkel aus. Ein Überblick.

Selbst für Angela Merkel (CDU), die als erfahren im Umgang mit Marathonsitzungen gilt, war es ein besonderer Moment, als das Ergebnis stand. „Außergewöhnliche Ereignisse, und das ist die Pandemie, die uns alle erreicht hat, erfordern auch außergewöhnliche neue Methoden. Es hat dann auch außergewöhnlich lange gedauert“, sagte die Bundeskanzlerin nach Ende des rekordverdächtig langen EU-Gipfels am Dienstagmorgen. Das Treffen hatte am Freitag in Brüssel begonnen.

Lange hatte ein „historisches Scheitern“ gedroht, wie internationale Medien noch am Montag notierten. Dann wurde es ein „historisches Ergebnis“. Und ein auch im Detail bemerkenswertes Paket.

Merkel sichert zusätzliche Gelder für Deutschland

Deutschland konnte sich so insgesamt eine Milliarde Euro zusätzlicher Gelder sichern. Wie aus dem Kompromissvorschlag für das Treffen hervorgeht, soll Deutschland aus dem nächsten Sieben-Jahres-Finanzrahmen zusätzlich 500 Millionen Euro für ostdeutsche Regionen erhalten, um „Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu fördern“. Weitere 500 Millionen Euro sind dem Entwurf zufolge für die ländliche Entwicklung vorgesehen.

Das ist der Rahmen des Pakets

Das Paket umfasst 1074 Milliarden Euro für den nächsten siebenjährigen Haushaltsrahmen bis 2027 und 750 Milliarden Euro für ein Konjunktur- und Investitionsprogramm.

Der Sonderfonds von 750 Milliarden Euro gilt besonders notleidenden Staaten. 390 Milliarden Euro sollen davon als Zuschüsse, 360 Milliarden als Kredite angeboten werden. 70 Prozent davon sollen 2021 und 2022 ausgegeben werden, 30 Prozent sind für 2023 reserviert.

Die Verteilung richtet sich vor allem danach, wie stark die Wirtschaft in den Jahren 2020 und 2021 einbricht. 2022 werden die Zahlungen für 2023 noch einmal überprüft.

Lesen Sie auch

Die betroffenen Staaten sollen selbst Pläne für die Verwendung vorlegen, die die EU-Kommission dann innerhalb von zwei Monaten prüft. Die Kriterien richten sich nach den länderspezifischen Empfehlungen, die die EU-Kommission ohnehin aufstellt. Eine Voraussetzung für die Freigabe der Mittel soll sein, dass Geld auch für Klimaschutz- und Digitalisierungs-Projekte eingesetzt wird.

Die EU-Regierungen müssen die Kommissionsentscheidung dann mit qualifizierter Mehrheit absegnen. Dies soll garantieren, dass die Zuschüsse nicht einfach in den normalen Haushalt der EU-Staaten einfließen. Falls „eine oder mehrere“ Regierungen Zweifel haben, können sie eine Debatte auf dem nächsten EU-Gipfel beantragen.

Erstmals gemeinsame Schulden

Erstmals wird der EU-Kommission erlaubt, in großem Umfang Schulden aufzunehmen. Die Anleihen über 750 Milliarden Euro werden bis 2058 laufen. Die Rückzahlung soll vor 2027 beginnen und aus dem EU-Haushalt geleistet werden. Die Bundesregierung hatte betont, dass die Einmaligkeit der Krise diese einmalige Aktion rechtfertige. Dies solle kein Einstieg in eine „Schuldenunion“ sein. Der französische Präsident Emmanuel Macron lobte am Dienstag dagegen, dass die EU nun erstmals gemeinsame Schulden mache.

Lesen Sie auch
Sinnbild einer gespaltenen Welt: der wiedergewählte polnische Präsident Andrzej Duda mit seiner Frau
Präsidentenwahl in Polen

Rechtsstaatlichkeit? Debatte vertagt

Anzeige

Die Verknüpfung der EU-Zahlungen an die Rechtsstaatlichkeit war eines der Streitthemen – das nun teilweise vertagt wird. Der Beschluss beschränkt sich jetzt auf zwei Elemente: Zum einen wird betont, dass die finanziellen Interessen der EU gewahrt werden müssen und rechtstaatliche Regeln wichtig sind.

Zum anderen wird die Kommission beauftragt, ein Konzept vorzulegen, wie ein „Regime an Konditionen für den Schutz des Budgets“ eingeführt werden kann. Der EU-Rat soll Maßnahmen bei einem Bruch dieser Regeln dann mit einer qualifizierten Mehrheit beschließen – dies dürfte erneut heftige Debatte auslösen. Da aber keine Einstimmigkeit bei dieser Entscheidung nötig ist, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Rechtsstaatsverstöße dann auch sanktioniert werden können.

Während EU-Vertreter sie als wirksame Koppelung bezeichneten, zitierte die polnische Nachrichtenagentur PAP polnische Regierungsquellen mit der Einschätzung, die Koppelung sei gestrichen worden. Ungarische Medien feierten die Einigung als Sieg für Ministerpräsident Viktor Orban.

Merkel äußerte sich ausweichend. „Sie wissen ja, dass ein Rechtsakt beraten wird, den die Kommission vorgeschlagen hat im Rat“, sagte die ehemalige CDU-Chefin in Brüssel. „An diesem Rechtsakt muss jetzt weitergearbeitet werden.“

Eventuell werde man sich mit Fragen zum Thema auch noch einmal bei einem EU-Gipfel beschäftigen, sagte die Politikerin. Für die Verabschiedung des Rechtsaktes im Ministerrat werde eine qualifizierte Mehrheit benötigt.

Kürzungen bei Außenpolitik und Migration

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bedauerte Einschnitte bei einigen von ihr vorgeschlagenen neuen Haushaltsinstrumenten in der Einigung beim EU-Finanzgipfel. Für ihren Kompromiss hätten die Staats- und Regierungschefs „weitreichende Änderungen“ an ihren Vorschlägen für den nächsten EU-Haushalt und den Corona-Hilfsfonds vorgenommen, sagte von der Leyen am frühen Dienstagmorgen. Kürzungen bei Themen wie Gesundheit, Migration oder der Außenpolitik seien „bedauerlich“.

Besonders hob sie hervor, dass die Staats- und Regierungschefs ein von ihr vorgeschlagenes Finanzinstrument zur Unterstützung von insolvenzbedrohten Unternehmen unter den Tisch hätten fallen lassen. Zwar werde weiterhin über die Hälfte der gesamten Haushaltsmittel aus dem mehrjährigem Finanzrahmen und Corona-Hilfsfonds für „moderne Politik“ zur Verfügung stehen. Aber der „innovative Anteil des Haushalts“ sei gesunken, sagte von der Leyen.

Anzeige

In einem Verhandlungsdokument vom Montag waren für das außenpolitische Instrument NDICI explizit 3,5 Milliarden Euro vorgesehen; die Mittel des NDICI kommen vor allem Entwicklungsländern zugute. Im Abschlussdokument fehlte dieser Posten. Die NDICI-Mittel im regulären Haushalt blieben mit 70,8 Milliarden Euro gleich.

Klimapolitik: Plastiksteuer und neue Investitionen

Unabhängig von der Coronakrise war schon länger eine Orientierung des Haushalts an der Klimapolitik geplant. Diese soll zum Querschnittsthema werden, und 30 Prozent der Ausgaben des Finanzpaketes sollen zu dem – noch zu vereinbarenden – EU-Klimaziel für 2030 beitragen.

Die am frühen Dienstagmorgen verabschiedete Einigung sieht eine Abgabe der Mitgliedstaaten auf nicht recyceltes Plastik ab dem 1. Januar 2021 vor. Bis spätestens 2023 sollen eine Abgabe bei der Einfuhr von CO2-intensiven Produkten aus Drittstaaten sowie eine spezielle Steuer für Digitalunternehmen folgen.

Die Plastiksteuer wird nach Gewicht berechnet: Jeder Mitgliedstaat muss demnach ab nächstem Jahr 80 Cent pro Kilo Plastik, das nicht wieder verwertet wird, an Brüssel abführen. Durch die Maßnahme erhofft sich die EU vor allem eine Reduzierung von Plastikmüll – die Einnahmen dürften mit der Zeit also sinken.

Eine langfristig stabilere neue Einnahmequelle Brüssels soll eine CO2-Grenzsteuer darstellen. Bei Importen von Produkten, die auf klimaschädliche Weise in Drittstaaten hergestellt werden, soll demnach ein Aufschlag erhoben werden. Ziel ist es, eine Abwanderung der Industrie in Länder zu verhindern, die beim Klimaschutz weniger ehrgeizig sind, als die EU.

Laschet lobt

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) begrüßt die Gipfel-Beschlüsse als Richtungsentscheidung für eine stärkere europäische Integration. „Krisen sind im griechischen Ursprung des Wortes Momente der Entscheidung. Die Tage von Brüssel waren ein solches Momentum der Entscheidung“, sagte Laschet WELT. „Nach dem Rückfall in nationalstaatliche Reflexe mit Grenzschließungen und Alleingängen in der Corona-Pandemie ist der Gipfel von Brüssel nach hartem Ringen eine Weichenstellung für mehr Europa. Das Ergebnis liegt in unserem nationalen  Interesse, da auch Deutschland ohne einen starken Süden Europas wirtschaftlich nicht wieder stark wird.“

„Die 27 Mitgliedstaaten haben sich auf das größte Budget aller Zeiten geeinigt, obwohl mit Großbritannien ein leistungsstarker Staat die Europäische Union verlassen hat“, sagte der CDU-Vorsitzkandidat Laschet. Das Programm NextGenerationEU lege die Grundlage für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der Union nach der Corona-Krise. Zum ersten Mal beschließe die Europäische Union EU-Anleihen mit einer Laufzeit bis 2058. „Dies ist ein großer Schritt in der Integrationsgeschichte Europas und ein klares Signal: Wir halten zusammen auch in Krisen. Wir nehmen den Wettbewerb mit China und den USA an. Wir handeln gemeinsam. Wir binden unser Schicksal aneinander.“

„Die deutsche Präsidentschaft unter Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel beginnt mit einem Paukenschlag, der die 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts prägen wird“, sagte Laschet. „Nicht der Rückfall in nationalen Egoismus, sondern das institutionell und finanziell unterlegte Versprechen, die Zukunft gemeinsam zu gestalten, ist die historische Leistung, die ohne den gemeinsamen Vorstoß von Angela Merkel und Emmanuel Macron nicht möglich gewesen wäre. Gut, dass gerade jetzt nicht Populisten, sondern verantwortliche Persönlichkeiten Führungsstärke gezeigt haben.“

Kritik von Bartsch

Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch kritisierte, dass die Frage der Finanzierung des milliardenschweren Rekordpakets offen bleibe. „Die Europäische Union ist mit dieser Einigung nicht über den Berg“, sagte Bartsch WELT. „Eine entscheidende Frage spielte überhaupt keine Rolle: Wer bezahlt die Billionen-Rechnung? Die angeblich ‚sparsamen Vier‘ jedenfalls nicht. Sie haben für sich satte Rabatte bei der Krisenbewältigung ausgehandelt. Sie sind die dreisten Vier!“

„Europa wird ungerechter und ungleicher, wenn Europas – auch die spanischen und italienischen – Multimillionäre und Milliardäre keinen relevanten Beitrag zur Finanzierung der Hilfsfonds leisten müssen“, bemängelte Bartsch. „Weder die deutsche Kassiererin noch die italienische Pflegekraft sollte diese Krise bezahlen müssen. Ich werfe der Bundesregierung vor, dass sie diese Frage noch nicht einmal zum Thema gemacht hat.“ 

Zudem bemängelte Bartsch: „Die Regelungen zur Rechtsstaatlichkeit sind halbherzig und inkonsequent. Dass Orban und andere quasi ein Veto haben sollen, ist hochproblematisch. Das Europäische Parlament sollte die Themen Finanzierung und Rechtsstaatlichkeit wieder auf die Tagesordnung holen. Da darf das letzte Wort noch nicht gesprochen sein.“

dpa/Reuters/lep

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema