Sexuelle Störungen


  1. Störungen und Varianten der sexuellen Präferenz
    1. 1.1. Begriffsbestimmung
      1. 1.1.1. Störung oder Variante
    2. 1.2. Formen abweichender sexueller Präferenz
      1. 1.2.1. Fetischismus
      2. 1.2.2. Voyeurismus
      3. 1.2.3. Pädophilie
        1. 1.2.3.1. Missbrauch
        2. 1.2.3.2. Verantwortung
      4. 1.2.4. Sadomasochismus
      5. 1.2.5. Fetischistischer Transvestitismus
    3. 1.3. Ursachen
      1. 1.3.1. Risikovermeidung
    4. 1.4. Behandlung
      1. 1.4.1. Medikamente
      2. 1.4.2. Psychotherapie
      3. 1.4.3. Psychoedukation
  2. Störungen der Geschlechtsidentität
    1. 2.1. Transsexualismus
    2. 2.2. Therapeutische Begleitung
  3. Sexuelle Funktionsstörungen
    1. 3.1. Formen sexueller Funktionsstörungen
    2. 3.2. Ursachen
      1. 3.2.1. Angst vor Verachtung und Unwert
      2. 3.2.2. Angst vor Ausgrenzung und Fremdbestimmung
    3. 3.3. Lösungen
  4. Störungen im Gefolge von Varianten der sexuellen Orientierung
Störungen der sexuellen Vorliebe sind meist mit Störungen der Selbstakzeptanz verbunden; entweder, weil der Betroffene seine wirklichen Wünsche nicht zu vertreten wagt und daher in eine abweichende Vorliebe ausweicht, oder weil er darüber hinaus nicht zur Abweichung stehen kann.

Varianten des sexuellen Ausdrucks sind nur dann als Störungen anzusehen, wenn sie Anderen schaden oder zu Beeinträch­tigungen der Selbstakzeptanz führen.

Das Erlebnisfeld der Sexualität kann auf vier verschiedenen Ebenen von Störungen betroffen sein. Zu nennen sind...

  1. Störungen und Varianten der sexuellen Präferenz
  2. Störungen der geschlechtlichen Identität
  3. Sexuelle Funktionsstörungen
  4. Störungen bei Varianten der sexuellen Orientierung

1. Störungen und Varianten der sexuellen Präferenz

1.1. Begriffsbestimmung

Die WHO beschreibt in der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) Störungen der sexuellen Präferenz (lateinisch praeferre = vorziehen). Eine Person mit einer abweichenden sexuellen Präferenz zieht sexuelle Praktiken vor, die vom Normverhalten abweichen.

Alternativ werden solche Abweichungen als Paraphilien (griechisch para [παρα] = neben, abseits und philia [φιλια] = Freundschaft) bezeichnet. Frei übersetzt heißt Paraphilie abweichende Vorliebe.

Da ihr eine abwertende Bedeutungskomponente inneliegt, ist die alte Bezeichnung Perversion (lateinisch pervertere = verdrehen) kaum noch gebräuchlich. Unter einer Perversion ist die Verdrehung eines als normierbar gedachten gesunden Impulses ins Krankhafte gemeint.

Hier sei die Vermutung riskiert, dass man unter sexuellem Normverhalten die intime heterosexuelle Begegnung ungefähr gleichaltriger Erwachsener versteht, die sich länger kennen, nackt oder dürftig bekleidet miteinander ins Bett gehen und nach einem Vorspiel in sogenannter Missionarsstellung miteinander schlafen.

Als Störung wird eine sexuelle Vorliebe heute nur noch eingestuft, wenn sie Leid verur­sacht und/oder dem normalen Empfinden unverstehbar gegenübersteht. Dabei kann die Unverstehbarkeit der Abweichung für normal empfindende Menschen eine wesentliche Quelle des Leides sein, weil sie zu sozialer Ausgrenzung führt. Das bloße Abweichen von der Norm reicht zur Definition einer Störung nicht mehr aus.

Während man bis vor wenigen Jahrzehnten mehrheitlich davon überzeugt war, dass Einigkeit darüber besteht, was als sexuelles Normverhalten zu gelten hat, wird der Begriff heute eher statistisch verstanden.

1.1.1. Störung oder Variante

Nicht zuletzt wegen der sexuellen Aufklärung der 60er und 70er Jahre ist die Einschätzung abweichender sexueller Vorlieben heute flexibler. Manche, wie zum Beispiel die Homosexualität, werden nicht mehr als Störung, sondern als Normvariante aufgefasst. Bei anderen Formen, wie dem Sadomasochismus, hat sich der Störungsbegriff verengt. Eine sadomasochistische Begegnung ohne grobe Gewalt und in wechselseitigem Einverständnis wird vielerorts als Element selbstbestimmter Lebensgestaltung akzeptiert.

Die Qualität möglicher Auslöser sexueller Erregung ist breit gefächert. Die individuelle Streubreite dessen, was erregt, variiert erheblich. Je nach Situation, gesellschaft­lichem Umfeld und Persönlichkeit können unterschiedliche Reize unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Für die Mehrheit der Menschen gilt, dass sie gelegentlich auf die eine oder andere paraphile Thematik reagieren. Das trifft vor allem für Fetischismus, Sadomasochismus und Voyeurismus zu.

Sigmund Freud ging so weit, den Menschen generell als polymorph pervers einzustufen. Polymorph pervers heißt: Im Grundsatz ist die Möglichkeit zur Entwicklung unterschiedlicher paraphiler Neigungen der menschlichen Psyche beigelegt.

Wegen der fließenden Übergänge zwischen normal und ungewöhnlich ist der Begriff Störung heute nur noch unumstritten, wenn als Folge der sexuellen Vorliebe Leiden entsteht. Und zwar...

  1. beim Träger der abweichenden Neigung selbst:

    • wenn die Neigung vom Träger selbst nicht akzeptiert werden kann (z.B. Sadomasochismus).
    • wenn sie vom sozialen Umfeld so stark abgelehnt wird, dass sie ohne das Risiko schwerer sozialer Folgeschäden nicht praktiziert werden kann (z.B. Zoophilie, Nekrophilie).
    • wenn sich der Betroffene damit unmittelbaren gesundheitlichen Gefahren aussetzt (z.B. bei der Asphyxiophilie, also der absichtlichen Drosselung der Sauerstoffzufuhr).
  2. bei missbrauchten Bezugspersonen:

    • zum Beispiel bei Kindern als sexuelle Objekte von Pädophilen oder bei Partnern sexueller Sadisten, die der Demütigung nicht aus einer authentisch masochistischen Neigung heraus zustimmen, sondern sich aus anderen psychologischen Gründen einer Erniedrigung fügen; z. B. der Angst, verlassen zu werden.
Je unverzichtbarer der abweichende Reiz für die sexuelle Erregung ist, desto eher ist von einer Störung zu sprechen und desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine tiefergehende Persönlichkeits­problematik vorliegt.

Die ⇗Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) unterscheidet darüber hinaus zwischen dauerhafter und vorübergehender Neigung. Die Kriterien einer echten Präferenzstörung sieht sie nur bei dauerhaft abweichendem Empfinden erfüllt. Die gelegentliche Reaktion normaler Personen begründet insofern keine Störung. Zur echten Präferenzstörung gehört außerdem, dass der abweichende Reiz eine mehr oder weniger notwendige Bedingung der sexuellen Erregbarkeit ist; und die Erregung auf üblichem Wege nicht erreicht werden kann.

Unterschiede im Überblick

Störung Variante
Es besteht erheblicher Leidensdruck für den Betroffenen oder Bezugspersonen. Verhalten ist zwar ungewöhnlich, alle an der sexuellen Begegnung Beteiligten sind jedoch sowohl einverstanden als auch einwilligungsfähig.

Der abweichende Reiz ist zur Erregung unverzichtbar.

Erregung ist auch ohne den abweichenden Reiz erreichbar.

Das abweichende Verhalten wird auf Dauer systematisch gesucht.

Die Erregung durch den abweichenden Reiz wird bei Gelegenheit erlebt.


1.2. Formen abweichender sexueller Präferenz

Subtile Reize

Geschwungener Übergang vom Schlüsselbein zum Halsansatz, feingliedrige Plastizität der Achillessehne, Blicke

Derbe Reize

Dralle Brüste, eindeutige Bewegungen von Schenkeln und Hüften

Je nach Persönlichkeitsstruktur, Umfeld, Situation, Zeitgeist und persön­lichem Erfahrungsschatz sind wirksame Reize subtil oder derb, üblich oder ungewöhnlich, anerkannt oder tabu. Sie vermitteln ihre Wirkung auf verschiedenen Sinnesgebieten oder auf dem Wege reiner Phantasie.

Sowohl die qualitative Vielfältigkeit der Reize als auch ihre individuell unterschiedliche Bedeutung für den Einzelnen erschwert es, Normalität und Abweichung eindeutig zu unterscheiden. Trotzdem kann man typische Themen ausmachen. Sie haben Eingang in die Klassifikation krankhafter Störungen gefunden, weil sie entweder grundsätzlich schädlich sind, weil sie potenziell Leiden verursachen oder so unverstehbar wirken, dass die Mehrheit sie auf Dauer als abartig empfinden wird.

Störungen der sexuellen Präferenz gemäß ICD-10-Klassifikation der WHO

Name ICD Auslöser sexueller Erregung
Feti­schismus F65.0 Bestimmte Gegenstände, Körperteile oder Materialien:
Schuhe, Unterwäsche, Füße, Haare, Brüste, Latex, Gummi
Fetischis­tischer Transves­titismus F65.1 Tragen typisch gegengeschlechtlicher Kleidung
Exhibitio­nismus F65.2 Selbstentblößung, Beobachtet-werden bei sexuellen Handlungen
Voyeu­rismus F65.3 Beobachtung anderer bei sexuellen Handlungen, Konsum pornographischer Darstellungen
Pädo­philie F65.4 Sex mit vorpubertären Kindern
Sado-Maso­chismus F65.5 Erleben von Dominanz oder Unterwürfigkeit
Multiple Paraphilie F65.6 Erregbarkeit durch mehrere der bisher genannten Auslöser
Sonstige Paraphilien F65.8 siehe unten

Unter dem ICD-Code F65.8 findet man eine heterogene Reihe sonstiger Paraphilien, die wohl als unvollständig zu gelten hat.

Name Auslöser
Koprophilie
Urophilie
Kot
Urin
Sodomie, Zoophilie Tiere
Nekrophilie Leichen
Asphyxiophilie Drosselung der Sauerstoffzufuhr
Frotteurismus
(französisch frotter = reiben)
Unabgesprochene Berührung Fremder im öffentlichen Räumen; z.B. durch die scheinbar unbeabsichtigte aber unausweichliche Berührung Mitreisender in überfüllten Bussen und Bahnen
Salirophilie
(französisch salir = beschmutzen)
Beschmutzen des Sexualpartners, z.B. mit Körperausscheidungen
Kommt als abgeschwächte Form auch als salirophiler Voyeurismus vor, z.B. bei inszenierten Schlammschlachten spärlich bekleideter Frauen beim Catchen.

1.2.1. Fetischismus

Die meisten Männer reagieren sexuell auf Brüste. Brüste sind keine Sexualorgane. Sie dienen dem Stillen hungriger Babys. Sie sind jedoch erotisch besetzt, weil sie selektiv mit dem Gegengeschlecht verbunden sind. Je nach Ausprägungsgrad trägt das männliche Interesse an weiblichen Brüsten fetischistische Züge. Eine ähnliche Wirkung geht von anderen Körperteilen aus; Schenkeln, Hüften, Waden. Gleiches gilt für Wäschestücke mit spezifisch erotischer Bedeutung.

All das begründet aber nicht die Diagnose eines echten Fetischismus. Beim echten Fetischismus wird die Erregbarkeit nicht nur durch besondere Reize unterstützt, sondern der jeweils spezifische Reiz ist vorrangige Voraussetzung der Erregung überhaupt.

Zum Fetischismus im engeren Sinne gehört auch nicht die selektive Erregbarkeit durch bestimmte Körperteile. Fetischistisch im engeren Sinne ist die Erregung durch - zumeist körpernahe - Gegenstände: erotische Dessous, getragene Unterwäsche, Schuhe, Strümpfe, oder erotisch besetzte Materialien (Latex, Leder, etc.).

Grenzziehung

Unterschiedliche Objekte können fetischistisch besetzt werden: Körperteile oder Gegenstände. Da von unterschiedlichen Körperteilen regelhaft unterschiedlich stark ausgeprägte Sexualreize ausgehen, ist der Übergang zwischen normaler und fetischistischer Erregbarkeit durch Körperteile fließend. Das erschwert die Zuordnung.

Sinnvoll ist es, zwischen Fetischismus im engeren Sinne und solchem im weiteren Sinne zu unterscheiden.

Fetischismus im...

...engeren Sinne ...weiteren Sinne
Gegenstände Körperteile

1.2.2. Voyeurismus

Auch ein voyeuristisches Potenzial, also die Erregbarkeit durch Beobachtung anderer beim Sexualverkehr, ist weit verbreitet. Sonst gäbe es in Videotheken keine Hinterzimmer und im Internet wäre Bandbreite für anders gearteten Traffic frei.

Eine Spielart des Voyeurismus wird meist nicht als solcher wahrgenommen: die Masturbationsphantasie. Wer sich selbst befriedigt, nutzt dabei regelhaft optische oder quasi-optische Reize; entweder unterstützt durch entsprechendes Bildmaterial oder in alleiniger mentaler Eigenproduktion. Voyeuristisch ist die Masturbationsphantasie, weil der Betreffende dabei an keinem realen Sexualkontakt teilnimmt, sondern sich durch die Beobachtung eines virtuellen Aktes erregt. Im Geiste beobachtet der Masturbant wie ein phantasiertes Ego, das mutiger, genussfähiger, hemmungsloser, mächtiger und begehrter als das echte Ego ist gefahrlos mit phantasierten Partnern verkehrt, die makelloser, williger, großzügiger und sinnlicher als echte Partner sind.

Auch hier gilt: Zum Voyeurismus im eigentlichen Sinn gehört, dass die Erregbarkeit nicht beiläufig ist, sondern zentraler Bestandteil des sexuellen Musters; und dass reale Sexualkontakte nicht oder kaum je gewagt werden.

1.2.3. Pädophilie

Hebephilie

Von der Pädophilie ist die Hebephilie abzugrenzen. Der Begriff stammt aus der griechischen Mythologie. Hebe war die jüngste Tochter von Zeus und Hera. Sie galt als eine Verkörperung der ewigen Jugend. Das pädophile Interesse kreist um vorpubertäre Kinder, das hebephile wendet sich an pubertierende Jugendliche. Da beim Pubertierenden das sexuelle Thema erwacht, ist die psychologische Dynamik beim hebephilen Missbrauch anders als beim pädophilen. Hebephilie wird in manchen Kulturkreisen fraglos akzeptiert.

Die Pädophilie spielt eine besondere Rolle; zumindest, wenn der Impuls des Pädophilen über die Masturbationsphantasie hinaus in die Wirklichkeit drängt. Dann vereinnahmt der Pädophile Personen, die nicht einwilligungsfähig sind und die über keine eigenständige Sexualität verfügen, die der Begegnung mit den sexuellen Bedürfnissen eines Erwachsenen gefahrlos standhalten könnte. Jede pädophile Praxis ist daher Missbrauch.

Erschwerend kommt hinzu, dass manche Pädophile das Problem verleugnen. In ihren Augen ist nicht die Pädophilie das Problem, sondern eine verständnislose Gesellschaft, die den angeblich harmlosen Impuls verleumdet. Sie sehen sich als Opfer fremden Unverstands. Dabei verweisen sie auf die Homosexualität. Auch die habe ein blinder Zeitgeist lange schlechtgeredet.

Echter und vermeintlicher Schaden

Die Gleichsetzung von Pädophilie und Homosexualität ist unzutreffend. Die pädophile Präferenz verursacht, sobald die ausgeübt wird, echten Schaden, die homophile nicht.

Gehen zwei Erwachsene freiwillig eine homosexuelle Beziehung ein, ist das ebenso unproblematisch als ob sie heterosexuell miteinander verkehrten. Die früher übliche Ansicht, Homosexualität sei eine medizinisch bedeutsame Störung, entsprang weltanschaulichen Motiven. Der einzige Schaden, den Homosexualität von je her nach sich zog, war daher illusionär. Er bezog sich auf eine tendenziöse Moralvorstellung, die ihrerseits kulturabhängig und damit austauschbar war.

Verkehrt ein Pädophiler mit einem Kind, ist der Schaden jedoch real. Die Verstörbarkeit des Kindes durch sexuelle Avancen und Übergriffe, denen es aus seinem kindlichen Entwicklungsstadium heraus nicht mit einem ebenbürtigen sexuellen Eigeninteresse begegnen kann, liegt in der Faktizität psychologischer Prozesse.

Die Einstufung der Pädophilie als problematische Sexualpräferenz ist daher keine Laune des Zeitgeists. Sie ist das Resultat begründeter Argumentation.

1.2.3.1. Missbrauch

Anders als es ein vorschnelles Urteil unterstellen mag, sind missbrauchte Kinder keineswegs durchgehend Opfer pädophiler Täter. Auch Erwachsene mit grundsätzlich normaler Präferenz oder Homosexuelle sind durchaus in der Lage, bei Gelegenheit oder ersatzweise auf Kinder als Objekte sexueller Begierden zuzugreifen.

Ist Kindesmissbrauch homosexuell, ist der Schaden für das Kind oft größer als bei einem heterosexuellen; besonders für Jungen. Der heterosexuellen männlichen Psyche liegt stärker als der weiblichen ein Tabu gleichgeschlecht­licher Intimberührung inne. Daher sind die Folgen eines homosexuellen Missbrauchs für Jungen psychisch oft noch schwerer zu verkraften, als die Folgen eines heterosexuellen Missbrauchs für Mädchen.


Pädophiles Spektrum

Wohlgemerkt: Präferenz heißt Vorliebe. Eine pädophile Vorliebe muss nicht bedeuten, dass ein Betroffener sexuell ausschließlich auf Kinder reagiert. Es heißt nur, dass er Kinder gegebenenfalls vorzieht. Ähnlich wie bei der Homosexualität, deren Spektrum fließend in die Bisexualität übergeht, kann davon ausgegangen werden, dass es sowohl ausschließlich als auch fakultativ pädophil reagierende Personen gibt.

Kindesmissbrauch kann daher nicht mit Pädophilie gleichgesetzt werden. Pädophilie an sich ist zunächst nur Präferenz. Zum Missbrauch wird sie erst durch die Umsetzung.

1.2.3.2. Verantwortung

Oben heißt es: Die Gleichsetzung von Pädophilie und Homosex­ualität ist unzutreffend. Das bezieht sich vor allem auf die Folgen der praktischen Umsetzung. Zu bedenken ist, dass es auch Parallelen gibt; und zwar nicht nur zur Homo-, sondern auch zur Heterosexualität. Die wesentliche Parallele besteht darin, dass sich der echte Pädophile seine Präferenz ebenso wenig aussuchen kann, wie der Hetero- oder der Homosexuelle.

Da die pädophile Praxis jedoch pathogene Folgen hat, kommt dem Pädophilen eine besondere Verantwortung im Umgang mit seiner Neigung zu; und eine besondere Bürde: denn anders als bei den sonstigen Varianten der sexuellen Präferenz kann der Pädophile seine Vorliebe kaum je offenbaren ohne das gesamte nicht-pädophile Umfeld völlig von sich zu entfremden.

Viele Pädophile verharmlosen ihre Neigung und sehen sich als Opfer einer feindlichen Moral. Vielen anderen ist ihre Präferenz ebenso bewusst, ohne dass eine Umsetzung für sie je in Frage käme; eben weil sie die Problematik erkennen und bereit sind, ein großes Opfer zu erbringen. Für einen Pädophilen, bei dem Erwachsene keinerlei libidinöse Resonanz erzeugen, bedeutet seine Präferenz unter Umständen lebenslange Enthaltsamkeit. Der Mut, den es bedeuten mag, so zu leben, ist nicht geringzu­schätzen und das Bild vom Pädophilen, der Spielplätze aufsucht, um dort Gelegen­heiten auszuspähen, ist ein Klischee, das vielen pädophil Veranlagten Unrecht tut.

1.2.4. Sadomasochismus

Die Palette des Sadomasochismus reicht vom harmlosen Rollenspiel bis zum Lustmord. Auch sadomasochistische Impulse reichen tief in die verborgenen Phantasien vieler Menschen hinein.

1.2.5. Fetischistischer Transvestitismus

Transvestitismus kommt in zwei Formen vor:

  1. Fetischistische Variante (auch transvestitischer Fetischismus genannt)
  2. Transsexuelle Variante

Die Besonderheit der fetischistischen Variante liegt darin, dass das Tragen der gegen­geschlechtlichen Kleidung zur sexuellen Erregung eingesetzt wird; und dass nach dem Orgasmus ein heftiger Impuls aufkommt, wieder eigengeschlechtliche Kleidung zu tragen.

1.3. Ursachen

Die Klassifikation der entsprechenden Phänomene als voneinander abgrenzbare Stö­rungsmuster lässt außer Acht, dass sexuelle Verhaltensstörungen nicht wie Bandwurm­befall und Tuberkulose als weitgehend vorindividuelle und voneinander unabhängige Krankheiten, die für sich allein stehen, beschrieben werden können, sondern stets in ein umfassendes psychologisches Erlebnisfeld eingebettet sind. Eine systematische Zuordnung nach dem Muster das kommt davon ist nicht möglich. Die Erforschung der Ursachen, wie es zu dieser oder jener Präferenzstörung gekommen ist, erfolgt daher im Rahmen einer jeweils individuellen Betrachtung; und führt zuweilen ins Leere.

Die Ursachen abweichender sexueller Vorlieben gründen teils in der individuellen Psychologie, teils liegt ihnen aber ein gemeinsames Muster zugrunde: die Vermeidung der Risiken, mit denen eine normale sexuelle Begegnung behaftet ist. Was das betrifft, haben die verschiedenen Formen der Paraphilie einen gemeinsamen Nenner.

1.3.1. Risikovermeidung

Wie jede zwischenmenschliche Begegnung so ist auch die sexuelle riskant. Man kann zurückgewiesen, verlacht, gedemütigt oder missbraucht werden. Das Risiko trifft im Bereich der Erotik auf eine besonders empfindliche Stelle. Die Fähigkeit zur sexuellen Vereinigung ist das soziale Rangabzeichen ebenbürtigen Erwachsenseins. Dementsprechend ist das Selbstwertgefühl der meisten eng mit ihrer sexuellen Potenz und ihrer erotischen Begehrbarkeit verknüpft.

Die männliche Rolle

Die Häufigkeit sexueller Präferenzstörungen ist bei Männer höher als bei Frauen. Ein Grund dafür ist die ungleiche Rollenverteilung in Liebesdingen. Bei der Werbung um einen Partner hat die Natur dem männlichen Pol quer durch alle Arten und Gattungen die aktive Rolle zugewiesen.

Eine Frau hat auch dann Chancen auf dem Markt der Liebe, wenn sie durch Blicke und Gesten Bereitschaft zeigt und dann entscheidet, welchem Interessenten sie das Jawort gibt. Eine Frau kann sich umwerben lassen.

Vom Mann erwartet die Welt mehr. Er muss bei der Werbung vorangehen. Von der Wasseramsel und dem Leistenkrokodil bis zum Homo sapiens hängt der Erfolg männlicher Sehnsüchte von der Bereitschaft ab, das Interesse tapfer zu bekennen und gegebenenfalls im Kampf dafür einzustehen. Der Mann muss sein Scheitern sichtbar riskieren.

Da ein Scheitern in Liebesdingen schmerzhaft ist, sind es folgerichtig eher Männer, die dem Risiko der Zurückweisung aus dem Wege gehen, indem sie in eine ungefährlichere sexuelle Vorliebe ausweichen, als es das Begehren nach Anerkennung als vollgültiger Sexualpartner ist.

Beim Sex zu versagen oder als Liebespartner nicht wertgeschätzt zu werden, ist eine uralte Angst, die in der Menschenseele schlummert und oft beim geringsten Geräusch erwacht. Biologisch gesehen geht es schließlich um Leben und Tod; um die Möglichkeit, die eigenen Gene über den Tod hinaus ins nächste Leben zu schicken.

Allen Abweichungen der sexuellen Präferenz ist eines gemeinsam: sie vermindern die genannten Risiken, indem sie einer vollständig-dialogischen Intimbeziehung aus dem Wege gehen.

1.4. Behandlung

In der Regel wird man Präferenzabweichungen nur behandeln, wenn ein Leidensdruck für den Betroffenen vorliegt oder eine Gefahr für andere. Viele Präferenzabweichungen bleiben auf Lebenszeit Geheimnis. Selbst beim Therapeuten werden sie nicht angesprochen.

1.4.1. Medikamente

Die Möglichkeiten einer medikamentösen Behandlung sind begrenzt. Ursächlich ist eine sexuelle Störung kaum je durch Medikamente erreichbar. Es ist allerdings möglich, die Stärke des Sexualtriebs insgesamt zu dämpfen. Dann lässt auch der Druck nach, abweichende Impulse auszuleben. Zur Anwendung kommen...

Der Begriff Libido geht auf lateinisch libido = Begierde zurück. Während Potenz die männliche Fähigkeit zum Sex bezeichnet, verweist der Begriff Libido auf die Lust dazu.
1.4.2. Psychotherapie

Auch die Möglichkeiten der Psychotherapie sind bei den meisten sexuellen Präferenz­störungen begrenzt. Selbst wenn psychologische und biographische Faktoren ausgemacht werden, deren Rolle als Mitursache nachvollziehbar erscheint, öffnet dies keineswegs regelhaft die Tür zur Heilung. Das gilt umso mehr, wenn der Anstoß zum Therapieversuch nicht vom Betroffenen selbst, sondern vom Umfeld kommt; nachdem es als Folge der Störung zu Straftaten oder schweren zwischenmenschlichen Spannungen gekommen ist.

Da Sexualität stets Ausdruck der gesamten Persönlichkeit ist, wird man den Schwerpunkt der Betrachtung bei einem grundsätzlichen Heilungsversuch nicht einseitig auf die vordergründige Symptomatik beschränken. Es gilt, den Selbstbezug und das Kommunikationsmuster des Patienten als Ganzes zu sehen.

1.4.3. Psychoedukation

Geht vom Betroffenen eine Fremdgefährdung aus - beim Sadismus oder der Pädophilie - stehen psychoedukative Ansätze zunächst im Vordergrund. Man versucht, mit dem Kranken Strategien zu erarbeiten, wie er mit seiner sexuellen Neigung umgehen kann, ohne eine Gefährdung anderer zu riskieren.

2. Störungen der Geschlechtsidentität

Identität und Orientierung

Identität Orientierung
Mann oder Frau Hetero-, homo- oder bisexuell

Von den Störungen der sexuellen Vorliebe sind die Störungen der Geschlechtsidentität abzugrenzen. Wer eine von der Norm abweichende sexuelle Vorliebe hat, ist dabei mit dem Geschlecht identifiziert, das genetisch-körperlich zum Ausdruck kommt. Der Körper ist männlich und der Betroffene empfindet sich als Mann.

Bei den Störungen der geschlechtlichen Identität erlebt der oder die Betroffene einen Widerspruch zwischen dem körperlichen Geschlecht und dem psychischen Identitätserleben. Obwohl der Körper männlich ist, empfindet sich die Betroffene als Frau; oder umgekehrt.

Die Psychiatrie unterscheidet sechs psychologische Problemfelder, bei denen der Betroffene seine geschlechtliche Identität infrage stellt:

Störungen der Geschlechtsidentität gemäß ICD-10-Klassifikation der WHO

Name ICD Merkmale
Trans­sexua­lismus F64.0 Seelische Identifikation mit dem genetischen Gegengeschlecht. Wunsch nach Geschlechts­umwandlung.
Transves­titismus unter Beibe­haltung beider Geschlechts­rollen F64.1 Tragen typisch gegen­geschlechtlicher Kleidung um die Rolle des Gegengeschlechts auszuleben. Keine sexuelle Erregung. Kein Wunsch nach Geschlechts­umwandlung.
Störung der Geschlechts­identität des Kindesalters F64.2 Vorpubertärer Beginn einer geschlechtlichen Identitätsstörung. Ablehnung der eigenen Geschlechtsrolle im Kindesalter. Hartnäckige Hinwendung zur gegen­geschlechtlichen Erlebniswelt.
Sexu­elle Reifungs­krise F66.0 Der Betroffene ist sich seiner geschlechtlichen Identität oder seiner sexuellen Ausrichtung unsicher. Kommt meist bei Heranwachsenden vor, selten auch bei älteren Menschen, die sich ihrer Identität bis dahin sicher waren.
Ichdystone Sexual­orientie­rung F66.1 Die sexuelle Ausrichtung ist zwar eindeutig, der Betroffene erlebt sie jedoch als problematisch und würde seine Identität oder seine Orientierung gerne ändern.
Sexuelle Beziehungs­störung F66.2 Die sexuelle Identität ist eindeutig; ebenso die Orientierung. Bei der Aufnahme einer sexuellen Beziehung zu einer anderen Person entstehen jedoch Probleme; weil der eine zum Beispiel homosexuell ist, der andere heterosexuell.

2.1. Transsexualismus
Transsexualismus ist ein starkes Indiz für die Existenz einer individuellen Einzelseele und für das Primat des Geistigen über die Materie. Wäre das seelische Empfin­den nur Ausdruck organischer Faktoren, könnte die Unerschütterlichkeit der Überzeugung des Transsexuellen, im falschen Körper gefangen zu sein, nur als wahnhaft gedeutet werden. Wer Transsexuelle kennt, wird das kaum je vermuten.

Abgrenzung

Von der Transsexualität ist die Intersex­ualität zu unterscheiden. Während bei der Transsexualität das körperliche und genetische Geschlecht eindeutig ist, ist es bei der Intersexualität uneindeutig; weil zum Beispiel chromosomale Varianten und anatomische Besonderheiten vorliegen, sodass weder die sichere Zuordnung der Geschlechtsorgane gelingt noch die Bestimmung eines eindeutig genetischen Geschlechts.

Die Ursachen des Transsexualismus kann man als ungeklärt bezeich­nen. Über seine Einordnung als Störung besteht Einigkeit und Uneinigkeit zugleich.

Einigkeit besteht darin, dass es sich um eine Störung handelt, und nicht bloß um eine Variante.

Der echte Transsexuelle selbst ist der Meinung, dass sein Erleben stimmt und sich die Biologie beim Ausdruck der Geschlechtsmerkmale irrt. Dementsprechend setzt er sich regelhaft für eine hormonelle Behandlung und/oder für geschlechts­verändernde Operationen ein.

Drittes Geschlecht
Vorwiegend in südostasiatischen Kulturkreisen ist die Einordnung der transsexuellen Thematik weniger pathologisiert als im Westen. Transsexuelle werden dort unbefangen als Angehörige eines Dritten Geschlechts (Hijra) aufgefasst. Allerdings sind Hijra auch in Indien nicht vollständig in die normgeschlechtliche Gesellschaft integriert. Stattdessen leben sie meist in abgegrenzten Gemeinschaften mit einer spezifischen Gruppendynamik.
2.2. Therapeutische Begleitung

Die Mehrzahl der Experten ist sich heute einig, dass ein therapeutisches Bemühen, Transsexuelle zur Identifikation mit ihrem leiblichen Geschlecht zu ermutigen, weder erfolgversprechend noch zum Wohle der Betroffenen ist.

Sowohl bei der manifesten Transsexualität als auch bei der sexuellen Reifungskrise, bei der die persönliche Identitätsfindung noch nicht abgeschlossen ist, bevorzugt man eine neutrale Haltung; was oft leichter gesagt als getan ist, da das transsexuelle Erleben Nicht-Betroffenen schwer nachvollziehbar erscheint. Daher löst die Begegnung mit Transsexuellen bei vielen Verunsicherung aus.

3. Sexuelle Funktionsstörungen

Die erotische Begegnung spielt im Leben des Einzelnen eine herausragende Rolle. Für die meisten ist die sexuelle Beziehung die Radnabe ihres sozialen Beziehungsfeldes überhaupt; entweder als verwirklichte Realität oder als Projekt, das es noch zu verwirklichen gilt. Von der erotisch durchwirkten Partnerschaft aus verästeln sich die Speichen der zwischenmenschlichen Kontakte ins Umfeld. So sieht es die Lebensplanung der meisten Menschen vor.

Der großen Bedeutung, die Sexualität für den Menschen hat, folgt ihre Störanfälligkeit auf dem Fuße. Sexuelle Funktionsstörungen sind weit verbreitet. Zumeist werden sie durch Versagensängste verursacht sowie durch die Furcht vor Zurückweisung oder vor dem Verlust der Selbstbestimmung.

3.1. Formen sexueller Funktionsstörungen

Die WHO unterscheidet acht Formen sexueller Funktionsstörungen. Gemeint sind hier ausschließlich seelisch bedingte Störungen. Funktionsstörungen aus körperlicher Ursache gehören zu den Fachbereichen Urologie, Andrologie und Gynäkologie. Seelisch bedingte Funktionsstörungen kann man drei grundsätzlichen Ursachen zuordnen:

  1. nicht wollen (Libidoverlust, Aversion)
  2. nicht können (z.B. Erektionsstörung, Vaginismus)
  3. unbefriedigt bleiben (z.B. Orgasmusstörung, vorzeitiger Samenerguss)

Sexuelle Funktionsstörungen gemäß ICD-10-Klassifikation der WHO

Name ICD Merkmale
Mangel oder Verlust des sexuellen Verlangens F52.0 Fehlendes sexuelles Interesse bei bestehender Funktions­fähigkeit
Sexuelle Aversion oder mangelnde sexuelle Befriedigung F52.1 Sex wird aus Angst davor vermieden; oder durchgeführt, ohne dass er zu einem Gefühl der Befriedigung führt.
Versagen der genitalen Reaktion
Erektions­störung
Psychogene Impotenz
Erektile Dysfunktion
Mangelnde sexuelle Erregung der Frau
F52.2 Geschlechts­verkehr wird gewünscht; die notwendigen körperlichen Reaktionen bleiben aber aus.
Orgasmus­störung
Gehemmter Orgasmus
Psychogene Anorgasmie
F52.3 Es kommt nicht oder nur verzögert zum Orgasmus.
Ejaculatio praecox
Verfrühter Samenerguss
F52.4 Wegen vorzeitigem Orgasmus des Mannes ist der Geschlechts­verkehr unbefriedigend.
Nichtorganischer Vaginismus
Psychogener Vaginismus
F52.5 Verkrampfung der vaginalen Ring­muskulatur aus seelischen Gründen verhindert Eindringen des Gliedes.
Nichtorganische Dyspareunie
Psychogene Dyspareunie
F52.6 Ohne körperliche Ursache kommt es zu Schmerzen beim Sexualakt.
Gesteigertes sexuelles Verlangen
Nymphomanie
Satyriasis
F52.7 Trotz erfolgreichem Sexualakt lässt die Libido kaum nach oder kommt kurz danach wieder.

3.2. Ursachen sexueller Funktionsstörungen

Die Ursachen sexueller Funktionsstörungen sind vielschichtig. Bei ihrer Entstehung verquicken sich individualpsychologische Konflikte mit Störungen im konkret gelebten Beziehungsgefüge. Dabei spielen Fragen der Selbstwert-Regulation sowie Ängste und Befürchtungen im Spannungsfeld des Psychologischen Grundkonflikts eine große Rolle.

3.2.1. Angst vor Verachtung und Unwert
3.2.2. Angst vor Ausgrenzung und Fremdbestimmung

Die Angst vor narzisstischer Kränkung mündet direkt in die Angst vor dem Verlust der Zugehörigkeit. Wer das Versagen seiner sexuellen Bereitschaft erleben muss, verscherzt sich damit den Zugang zur Gruppe jener Gewinner, deren Leben - wenn man den Bildern der Werbung glauben mag - in der Leichtigkeit einer ständig erfolgsverwöhnten Zusammenkunft vonstattengeht.

Allein um dazuzugehören, wird so mancher erotischen Begegnung zugestimmt, bei der der Eros aber bloß missbraucht wird und sich daher Duckes hält. Dann treten sexuelle Funktionsstörungen auf, aus denen sich Kreisläufe des Scheiterns bilden können.

Auch der andere Pol des psychologischen Grundkonflikts ist für sexuelle Funktions­störungen verantwortlich. Die erotische Begegnung ist kein Kinderspiel, dessen Genuss man sich stets gönnen kann, ohne dass das Leben dafür einen Preis verlangt. Seit der Erfindung der Pille ist einer der Preise zwar seltener zu zahlen: dass die Frau mit allen Konsequenzen ungewollt schwanger wird oder man gar Zwillinge zeugt. Auch ohne das kann die Dynamik einer erotischen Begegnung aber so mächtig sein, dass sie die Beteiligten in einer Weise vereinnahmt, die ihre Selbstbestimmung infrage stellt. Das weiß die Psyche instinktiv. Sie fürchtet sich davor. Wird die Furcht nicht verstanden, kann daraus ein Zwiespalt entstehen, der sich weder für Hüh noch für Hott entscheiden kann.

3.3. Lösungsansätze bei sexuellen Funktionsstörungen

Vorübergehende sexuelle Funktionsstörungen sind häufig. Nicht jeder macht sich daraus einen Kopf, der ihn in einen Strudel aus Selbstwertzweifel und Erfolgsdruck reißt. Viele machen es aber doch.

Bei der männlichen Impotenz mögen medikamentöse Mittel (Sildenafil, Tadalafil, Vardenafil) wirksamer Treibstoff sein, dauerhafte Lösungen sind sie meistens nicht.

Bei der psychotherapeutischen Behandlung sind die oben genannten Themenfelder, die in die Entstehung der sexuellen Störungen verwickelt sind, individuell zu bearbeiten. Der Patient muss erkennen, wie eng sein Scheitern damit verwoben ist, auf keinen Fall scheitern zu wollen. Erst wenn er sich der wirklichen Begegnung zuwendet, statt der Frage, welche Folgen sie für sein Ansehen, seine Rolle im Leben und die Meinung des Anderen haben wird, steigt er aus dem typischen Kreislauf aus.

4. Störungen bei Varianten der sexuellen Orientierung

Begriffe

Homosexuell ist von griechisch homos [ομος] = gleich abgeleitet. Homosexuell heißt also gleichgeschlechtlich (analog zu homogen). Lateinisch heißt homo der Mann. Der Gleich­klang ist nur Zufall, sodass sich der Begriff Homosexualität nicht einseitig auf die Liebe unter Männern bezieht, sondern auch die lesbische Lebensweise umfasst. Der Begriff lesbisch geht seinerseits auf die griechische Insel Lesbos zurück, wo die homosexuelle Dichterin Sappho lebte.

Abweichungen vom heterosexuellen Grundmuster der sexuellen Orientierung werden nicht mehr als Störungen aufgefasst. Heute gilt die homosexuelle bzw. bisexuelle Orientierung als Normvariante; die keiner Behandlung bedarf, die ihre Vollgültigkeit infrage stellt.

Nichtsdestotrotz kann die Frage einer abweichenden sexuellen Orientierung zu seelischen Problemen führen. Da Homosexuelle in der Minderzahl sind, fällt die Bejahung der homosexuellen Identität oft schwerer als die Akzeptanz der heterosexuellen. Homosexuelle riskieren wegen ihres Merkmals spezifische Ablehnung, die mancherorts in blanke Gewalt umschlägt. Heterosexuelle riskieren das nicht.

Das sogenannte Coming-out, also das Bekenntnis zur normabweichenden Orientierung, ist für viele ein besonderer Schritt auf dem Weg zur Selbstfindung. Wird der Schritt nicht gewagt, kann das zu Beeinträchtigungen der seelischen Gesundheit führen. Die Gründe dazu können sowohl in der Furcht vor einer Ablehnung durch wichtige Bezugspersonen liegen, aber auch im Zusammenprall mit einem Selbstbild, in das eine abweichende Orientierung nicht integriert werden kann.